Lothar ist seit zwei Monaten obdachlos/ In der »Läusepension« hielt er es nicht aus/ Ein »klassischer« Lebenslauf im Teufelskreis von Alkohol und Spielsucht/ Überwintert wird im Knast Von Ralf Knüfer,taz
»Den kennen Se schon, ja?« Der Mann in der ausgebeulten Jogginghose und dem schrillen orangenen Hemd meint den Witz, den er gerade erzählt hat. Seine Füße stecken barfuß in schweren Winterschuhen, und das bei dreißig Grad. Die Antwort aber will er nicht abwarten. Er ist schon mitten im nächsten Witz. Nach dem dritten Kalauer ist die Vorstellung plötzlich beendet. Er trottet, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zu seiner Parkbank zurück. Der Parkbesucher bleibt ein wenig verstört zurück und wendet sich achselzuckend wieder seinem Buch zu. Eine halbe Seite später ist er zurück und läßt Witze vom Stapel, als stünde er auf einer Kleinkunstbühne.
Lothar heißt der Mann, der den Humor seiner Mitmenschen so gründlich auf die Probe stellt. Lothar ist obdachlos. Seit zwei Monaten lebt er auf den Straßen Berlins. Dreimal noch wiederholt er den ulkigen Auftritt, bevor er sich setzt und Witze Witze sein läßt.
»Wenn Sie nicht reagiert hätten, hätte ich Leine gezogen«, sagt er. In der sogenannten normalen Gesellschaft fühlt er sich unerwünscht, und so wirbt er auf diesem ungewöhnlichen Weg um Sympathie. Lothar ist in seinem Leben oft genug abgewiesen worden, er will keine Mauern mehr einrennen.
Ausgezogen ist er, weil er »die Schnauze voll« hatte. Vor seinem Einzug in die Straßen wohnte er in einer »Läusepension« in der Nähe des Schlesischen Tors. Lothar ist Alkoholiker. Nach einer Entgiftung im Krankenhaus ist er in der Pension gelandet, in denen obdachlose Alkoholiker mit halbem Herzen versorgt und beschäftigt werden. Das Sozialamt, so beschwert er sich, habe 1.000 DM pro Monat für ihn hingeblättert, damit er in einem Vierbettzimmer zusammen mit anderen Alkis »trockengelegt werden könne«. »Wie im Schweinestall ist es da zugegangen.« Seine zehn Mitbewohner hätten nie sauber gemacht, die Wohnung wäre langsam verkommen, und niemand hätte sich um sie gekümmert. Das hat er nicht mehr ausgehalten.
Und so scheint er auch jetzt nicht verzweifelt. Lothar hat von zwei schlechten Alternativen die für ihn erträglichere gewählt. Seine Strategie für den kommenden Winter ist bereits ausgearbeitet: »Dann fahr ich ein…«, erklärt er, »beschaffe mir ein trockenes Plätzchen im Knast.« Zu wehleidigen Ausbrüchen läßt sich der Siebenundvierzigjährige nicht hinreißen. Zwischendurch ruft er einem vorbeieilenden Kirchenmann, der seinen Gottesdienst in der Ludwigskirche beendet hat, leicht spöttelnd zu: »Wie geht’s denn so, Pater?« und erhält keine Antwort. Nur einmal bekommt seine Stimme einen bitteren Ton. Seine Mutter hat ihn mit dreizehn Jahren in ein Heim gesteckt. Das hat er ihr bis heute nicht verziehen. In dem Mietshaus, in dem die Mutter wohnt, hat er seine Vorwürfe an die Wand gepinselt: »Damit die das da alle wissen, und sie sich nicht mehr sehen lassen kann.« Unterschrieben hat er mit »Dein Sohn«. Das ist seine Art der Rache. Die Verachtung, die er durch sie erfahren hat, soll sie nun wenigstens nachempfinden können.
Über Wasser hält sich Lothar mit Berufen, die man in den Gelben Seiten des Telefonbuchs vergeblich suchen würde, als Parkplatzverwalter zum Beispiel.
Wenn es nicht tragisch wäre, könnte man seinen Lebenslauf als »klassisch« bezeichnen. Er klingt, wie sich ein Soziologie-Student im ersten Semester das vorstellt: Ohne Ausbildung fing Lothar mit achtzehn das Trinken an und merkte nicht, wie er in die Sucht rutschte. In den verschiedensten Jobs hat er sich seitdem versucht. Nur einmal hat er über längere Zeit als Gärtner gearbeitet. In den letzten Jahren sind zum Alkohol die »einarmigen Banditen« gekommen, die ihn immer, wenn er mal ein paar Mark in der Tasche hatte, auf Heller und Pfennig ausgezogen haben. Mit dieser Leidenschaft kamen die Schulden, und wenn er an die gedacht hat, fing er wieder an zu trinken. Aus diesem Teufelskreislauf konnte er nie ausbrechen: »Mir wurde der Kampf dagegen irgendwann zu anstrengend.«
Jetzt richtet er sich auf der Straße ein. In den Brunnen der Stadt wäscht er sich. Und den »Kollegen« rät er, das gefälligst auch zu tun, sonst holten sie sich schlimme Infektionen. Lothar sieht noch nicht verwahrlost aus. Er ist sogar rasiert, aber wer weiß, wie lange er die Energie dafür noch aufbringt. Von allem unnötigen Krimskrams hat er sich getrennt. Wenn er frische Wäsche braucht, dann tauscht er sie bei der »Bag- Lady« ein, die am Kurfürstendamm über ihre Tüten wacht und gelegentlich die Tauben füttert.
Lothar aber braucht nur eine Plastiktüte. Darin trägt er seinen Stoff — eine Pulle Wodka. »Manchmal ist es schwierig, ein geschütztes Plätzchen zum Schlafen zu finden«, sagt er. Mehr als vier Stunden würde er es auf dem meist harten Untergrund kaum aushalten. Und das ist auch seine Erklärung, warum er sich eine »richtige Arbeit« aus dem Kopf geschlagen hat.
Über Wasser hält sich Lothar mit Berufen, die man in den Gelben Seiten des Telefonbuchs vergeblich suchen würde, als Parkplatzverwalter zum Beispiel. Er weist gestreßte Autofahrer in Parklücken ein. Zwanzig bis dreißig Mark bringt das am Tag ein. In den wohlhabenderen Stadtteilen inspiziert er die Mülltonnen: »Wahnsinn, was die Leute alles wegschmeißen. Toaster, Föne habe ich gefunden, und die funktionierten alle noch.«
Als er sich verabschiedet, hält er die Hand auf: »Ham‘ Se mal ein, zwei Mark?« Wenn Lothar wirklich nur soviel haben will, wie er sagt und nicht insgeheim auf mehr hofft, dann fordert er einen bescheidenen Preis, für zwanzig Minuten Witze erzählen. Der Mann verkauft sich unter Wert.