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Kolumne in zitty, 1/99

Wer die reale Welt zu langweilig findet, baut sich Ersatzwelten in Text, Ton, Bild und Drogen. Manchmal funktioniert das ganz gut. Ich kenne Leute, die seit Jahren jeden Tag in ihrem Kopf eine Weltreise machen, einen Film drehen und es vermeiden, mit dem wirklichen Leben in Kontakt zu treten.

Ich mag diese Leute, deswegen stört es mich nicht, wenn sie weit nach Mitternacht bei mir klingeln und auf die Frage, wo sie gewesen sind, antworten: „Hollywood!“ Von diesen ekstatischen Wesen halte ich mehr als vom modischen Konstruktivismus, dieser Anleitung zum Selbstbetrug, die man inzwischen bei jedem Managementtraining für ein paar Scheine erstehen kann: Die Gierigen der Gegenwart fragen nicht mehr, wo sie sind, wenn sie nur irgend jemand sein dürfen.

Das sind die Resultate des „reality checks“ des Jahres 1998, und da 3.000 Zeichen für eine Ortsbestimmung zu wenig sind, verlege ich die Lokalisation ins Jahr Jahr 2008. Zum Beispiel werde ich im Jahr 2008 nicht mehr rauchen, obwohl ich nicht die leiseste Ahnung habe, wie ich das bewerkstelligen soll. Natürlich werde ich gelegentlich und genüßlich an einem Joint ziehen; inhaliert habe ich natürlich nie – ph, wo denkt ihr hin! Mein Kiffer-Buddha-Strahlen werde ich als Antithese zur aktuellen amerikanischen Gesichtskonvention verstehen, die spätestens 2002 auch in Europa zu allgemeiner Fitness-Leere geführt haben wird.

2008 wird es sich als richtig erwiesen haben, dass ich mich nicht um eine Lebensversicherung gekümmert habe. Die berüchtigte Zeit um die dreißig ist vorbei. Alte Freunde tauchen wieder auf, die sich so um 1998 in eheähnliche Verhältnisse geflüchtet und willig am Hamsterrad einer klassischen Berufskarriere gedreht haben, bis ihnen – overspent and overworked – schwindlig wurde. Die Lebensversicherung ist schließlich für die Schulden draufgegangen.

2008 werden die Finanzmärkte dreimal zusammengebrochen sein. Zum ersten Mal pünktlich zur Jahrtausendwende, ausgelöst durch Computer, die nicht mehr wussten, in welcher Zeit sie sich befinden. Nietzsche hat im Jahr 2006 ein Modem erhalten und ist dabei, die letzten Seiten des Willens zur Macht als Willen zur Virtualität umzuschreiben. Das wird uns wie Datenmüll erscheinen. Wir sind befreit vom Wahn, Gott im Cyberspace zu sein, dieser öffentlichen Ideologie als Fantasie präpubertärer Männer: der Regression von Sex zu einem autistischen Machttrieb. 2008 wird Sex den Cyberspace als Erkenntnistheorie ablösen, die Liebe wird sich lösen von der Verpflichtung eheähnlicher Verhältnisse, gemeinsame Geschäftsinteressen zu bestätigen. Die Englein singen Hallelujah.

Wir werden Microsoft und die Kontrollphantasien des Bill Gates überlebt haben. Gut, vielleicht nicht ganz. Ich werde von dieser Brille namens Superglass Gebrauch machen. Auf Parties wird sie mir alle verfügbaren Daten über meinen Gesprächspartner auf der Innenseite der Gläser einspielen. Software wird endlich funktionieren und nicht ständig kryptische Fehler melden. Und auch Lotti Huber findet ihre wohlverdiente Ruhe. Seit Wochen stirbt sie jeden Tag aufs Neue in meiner Morgenzeitung, die von einem Programm zusammengestellt wird. Beim Schreiben werde ich nicht mehr tippen, sondern dem freundlichen Hologramm namens Kaspar meine Wünsche kundtun. Nichts spricht dagegen, den ganzen Tag im Bett zu oblomowieren. Im Jahr 2008 sind wir in einer „Gesellschaft zur Lieferung sinnlich erfahrbarer Wirklichkeit frei Haus“ angekommen. Bis dahin bleibt es Krampf, und damit mag ich nichts zu tun haben.